Die moderne Wohnungssuche
In der Anzeige hieß es: 40 Quadratmeter Penthaus mit Rundum-Terrasse, doch als Evi vor dem Gebäude stand wurde ihr klar, warum es so günstig war. Sie war neu in der Stadt und konnte nicht ahnen, dass die gesamte Nachbarschaft unglaublich heruntergekommen war. Das, aus dem letzten Jahrhundert stammende Haus fügte sich dort hervorragend ein. Seine Fassade war vom Schmutz der Zeit schwarz und fleckig. Der Putz blätterte ab. Die Eingangstür war verkommen und an den Fenstern war schon lange kein Lack mehr.
Evi suchte auf dem Klingelbrett, das genauso wüst aussah, wie der Weg von der U-Bahn bis hierher, nach dem Namen der Obfrau. Sie fand ihn nicht. Sollte sie aufgeben? Nein, sie durfte nicht wählerisch sein, wenn sie nicht für immer in dem stinkenden Motel wohnen wollte, in dem sie seit ihrer Ankunft hauste und das ihr Budget fraß. Sie hämmerte an die schwere, doppelflügelige Holztür, die der Kaiser wahrscheinlich noch persönlich lackieren ließ. Erst geschah nichts. Dann, nach dem Evi noch einige male an die Tür gehauen hatte und an ihr rüttelte, hörte sie das Quietschen von rostigen Scharnieren. Es war nicht die Tür die sich öffnete, sondern ein Fenster im zweiten Stock. Heraus streckte sich ein grauer Wuschelkopf, der zu einer Frau gehörte, die den Einbau der Tür hätte miterlebt haben können.
„Ja?“, fragte sie und ihre Stimme klang wie das Quietschen des Fensters.
„Mein Name ist Evi van Sterje, ich komme um mir die Wohnung anzusehen.“
„Einen Moment bitte.“ Der Kopf verschwand und das Fenster schloss sich.
Es dauerte, bis sich die Tür öffnete und die Alte Evi musterte. So etwas passierte ihr oft. Männer musterten sie wegen ihrer Figur, Frauen wegen ihrer pinken Haare.
„Wie kann ich dir helfen, Kind?“, sagte die Alte, die in ihrem geblümten Kittel Evi an ihre Großmutter erinnerte.
„Ich komme wegen der Wohnung.“
„Wie bitte?“ Die Frau streckte Evi ein Ohr entgegen.
„Die Wohnung, ist sie noch frei?“
„Oh ja. Ja, ja, die ist noch frei. Willst du sie sehen, Kind?“ Die Frau öffnete die Tür weiter und ließ Evi eintreten. Hinter der Tür war kein Hausflur, sondern eine Durchfahrt in einen Innenhof. Es war düster und kühl. In der Luft lag ein modriger Geruch, als wäre die komplette Geschichte des Hauses zu riechen.
„Sind Sie die Obfrau?“
Die Alte nickte und führte Evi durch den Hof in einen noch dunkleren Seiteneingang. Sie deutete in einen Treppenabgang und sagte: „Die Waschküche ist da unten.“
„Die Wohnung hat keinen eigenen Waschmaschinenanschluss?“
„Nein, aber eine Dusche mit einem wunderschönen Ausblick.“
Sie stiegen die Treppe hinauf.
„Gibt es denn keinen Fahrstuhl?“
„Nein, Kind. Aber dafür wird das Penthaus mit seinem eigenen Stromkreis betrieben. Grüne erneuerbare Energie.“ Es klang auswendig gelernt.
„Wieviele Stockwerke sind es denn?“
„Oh, es ist ganz oben.“
Es waren fünf Etagen, bis die Treppe aufhörte. Die Obfrau griff nach einem Stab mit einem Haken daran, der in einer Ecke stand.
„Würdest du bitte, Kind.“ Sie deutete nach oben „Du bist ein bisschen größer.“
In der Decke war eine Falltür, mit einer Öse daran. Evi nahm den Stab, führte den Haken durch die Öse und klappte die Tür nach unten.
„Sie sind sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte Evi, während die Obfrau eine Leiter aus der Tür faltete.
„Natürlich Kind, ein Penthaus ist immer ganz oben.“ Sie deutete Evi vorzugehen. Die zögerte, stieg dann aber doch die Leiter hoch. Oben endete sie an einer Tür. Evi öffnete sie. Ein Luftzug kam hindurch und vertrieb den Geruch nach Staub und Moder. Es wurde hell. Sie trat durch die Tür und war sprachlos. Wind spielte mit ihrem Haar und es roch nach Dachpappe. Tatsächlich waren sie ganz oben – auf dem Dach. Hier gab es nichts, außer einem Dixiklo und etwas das aussah wie ein Zelt. Evi war sich nicht sicher, ob es dafür war Arbeiter vor der Sonne zu schützen, oder ein Loch im Dach vom Regen abzuschirmen.
„Würdest du kurz …“ Die Obfrau war ebenfalls oben angekommen und streckte Evi die Hand durch die Tür entgegen. Evi ergriff sie und zog die Alte heraus. „Ah, ist der Ausblick nicht herrlich, Kind?“
Evi stand mit offenem Mund da und drehte sich ungläubig um sich selbst. Die Aussicht war tatsächlich atemberaubend. Von hier oben überblickte man die gesamte Stadt.
Evi wischte eine Strähne aus dem Gesicht, die der Wind sofort wieder zurück blies. „Schon, aber …“
„Ich weiß was du sagen willst, aber warte noch bis du alles gesehen hast. Es hat drei niedliche Zimmer.“ Die Alte öffnete den Reißverschluss und rollte die Plane beiseite. „Die Küchenzeile im Eingangsbereich hat ihre eigene Gasversorgung.“ Sie deutete auf ein paar blaue Kartuschen.
„Das ist natürlich von Vorteil, aber …“ Evi befühlte das Polyester der Planen und fragte sich ob sie oder die Alte den Verstand verloren hatte.
„Es ist voll möbliert, und der Empfang mit dem Mobiltelefon ist hier oben großartig.“
„Es ist nur …“
„Eine eigene Toilette.“ Die Alte klopfte mit der flachen Hand an die blaue Tür mit dem Herzchen darauf und lehnte sich an die Kabine aus Plastik.
„Ich meine nur …“
„Ich weiß, junge Leute brauchen das Interweb.“ Sie kramte in einer Tasche ihres Kittels und fischte etwas heraus, das aussah wie ein USB-Stick mit Antenne.
Evi öffnete den Mund um etwas zu sagen, aber die Alte war schneller.
„Um das Wetter brauchst du dir auch keine Gedanken machen. Die Leinen sind aus UV- und wasserbeständigen Polyester, das komplette Gestänge und alle Heringe aus rostfreiem Aluminium. Die Plane frisch imprägniert. Das gute Ding hält die nächsten zehn Jahre.“
Evi sah die Obfrau an, die fröhlich ihr Referat herunter ratterte. Ihre Augen funkelten bei den Worten Solar und Regenwaldpanoramadusche. Als sie endlich fertig war und Evi erwartungsvoll ansah, wusste diese nichts mit der Pause anzufangen.
„Und?“, fragte die Obfrau.
„Oh, äh …“ Evi wischte sich durch das Haar und blinzelte. „Also ich, äh, glaube nicht, dass es etwas für mich ist. Ich suche doch etwas … konventionelleres. Ich bin nicht so fürs Campen.“ Evi sah die Enttäuschung in den blassen Augen der Alten. Schnell wandte sie sich ab, murmelte einen Dankes- und Abschiedsgruß. Und verschwand die Leiter hinab. So schlimm war das Motel dann auch wieder nicht.