Posted in Deutsch, Stories
2023-01-20

Der Fahrraddieb

Eins – eins – eins. Als das Schloss an seinem Fahrrad klickte, wachte Levi auf. Es musste reiner Zufall gewesen sein, denn gehört haben konnte er es nicht. Er lag im 3. Stock im Schlafzimmer. Sein Fahrrad stand bis gerade eben vor dem Haus. Doch jetzt fuhr es über die Erika Row – geführt von einer zarten Hand.

Verkatert rollte Levi aus dem Bett. Im Wohnzimmer angekommen seufzte er über das Chaos. Gestern war Anna bis spät hier gewesen, um mit ihm auf seinen Geburtstag anzustoßen.

Ach, die chaotische, vergessliche Anna. Levi nahm ihre Pall-Mall-Schachtel vom Couchtisch und sah auf die Uhr. Höchste Zeit für die gemeinsame Morgenzigarette.

Eine Etage tiefer hämmerte er an Annas Tür. „Hey, du hässliches Entlein, mach auf.“

Nichts geschah. Er zuckte mit den Schultern und ging hinaus. Die pazifische Sonne schlug ihm ins Gesicht. Nur seine Sonnenbrille konnte ihn vor einer Schwindelattacke schützen. Er zündete sich eine seiner eigenen Zigaretten an und starrte auf den unbesetzten Laternenpfahl.

„Och, nö!“, sagte er, als sein taubes Gehirn verstand. Er ging die letzten beiden Stufen der Eingangstreppe hinunter und betrachtete sein fehlendes Fahrrad, von dem nur das Schloss übrig war.

Levi trat näher heran, ließ sich auf die Knie sinken und begutachtete das unversehrte Schloss. Jemand hatte die Zahlenkombination geknackt. Sein Blick fiel auf den noch qualmenden Zigarettenstummel daneben.

Er hob ihn auf und betrachtete ihn einen Augenblick, dann erhob er sich und sah die Straße hinunter. Und hinauf, wo die Erika Row den Katrin Course kreuzte. Er blinzelte und beschattete die Augen. Nicht weit entfernt, auf der anderen Seite des Katrin Course, vor dem Eckladen, war es das …? Der rote Rahmen, der zerfledderte Sattel.

„Na warte!“ Er setzte zum Sprint an. Der Bus hätte ihn fast erwischt, was er mit lautem Hupen mitteilte.

Levi schreckte zurück, stolperte und fiel. Der Bus rauschte vorbei. Der Sturz hatte seine Kopfschmerzen verschlimmert. Er rappelte sich auf, klopfte den Dreck von seiner Hose und kniff die Augen zusammen, denn er traute ihnen nicht.

Auf der anderen Straßenseite angelangt, stellte er sich an die Stelle, an der das Fahrrad gerade gestanden hatte. Levi blickte in alle vier Richtungen der Kreuzung. Verpufft, das Rad war einfach verpufft.

Er stürmte in den Laden. „Wo ist mein Fahrrad? Wer war das mit dem Fahrrad?“
Der Kassierer beäugte ihn misstrauisch.

„Bist du taub? Das Fahrrad?“

„Reiß dich zusammen. Wir haben keine Fahrräder!“

„Ein bisschen schwer von Begriff, was? Das Fahrrad, das eben draußen stand!“

„Weiß nix von ‘nem Fahrrad. Entweder du kaufst was oder verschwindest.“

„Wer war hier als letztes drin?“

„So’n komischer Typ. Klein, blond, Haare lang. Kauft ‘ne Schachtel Pall-Mall und geht wieder, genau wie du jetzt!“

„Wohin ist er gegangen?“

Der Kassierer lehnte sich nach vorne und flüsterte Levi ins Ohr „Verpiss dich!“

Draußen seufzte Levi und ging die Straße hinunter. Er musste zur Polizei.

„Haste ma’ Kleingeld?“, bettelte ihn ein Obdachloser aus dem schmalen Weg neben dem Eckladen an.

„Kam hier einer mit einem roten Rennrad lang?“

„Für’n Fünfer schon.“

Levi verdrehte die Augen und kramte einen Fünf-Dollar-Schein aus der Hosentasche. Der Obdachlose grinste, packte das Geld mit der einen und zeigte mit der anderen Hand Richtung Ann Avenue.

An der nächsten Ecke stieß Levi mit einer kleinen Person zusammen.

„Anna? Du? So früh unterwegs?“

„Levi … das gleiche könnte ich dich fragen.“ Sie blinzelte und wischte sich eine blonde Strähne aus dem Mund.

„Mein Fahrrad wurde geklaut.“

„Oh … Äh … das tut mir leid.“ Sie setzte ihre Sonnenbrille auf. „Ich … ich muss weiter, hab’s eilig.“ Sie hauchte ihm einen hastigen Kuss auf die Wange. Levi starrte ihr hinterher, wie sie eiligen Schrittes verschwand.

Er setzte seinen Weg fort. Weit kam er nicht, da starrte ihm etwas Bekanntes aus dem nächsten Schaufenster entgegen.

Wild vor Zorn flog er in den Laden und packte das rote Rennrad mit dem zerfledderten Sattel. Er war fast bis zur Tür gelangt, da legte sich eine kräftige Hand auf den Lenker.

„Wohin so eilig, Junge?“, fragte der kleine blonde Fahrradhändler.

„Nach Hause!“

„Das Fahrrad bleibt aber hier.“ Sein Pferdeschwanz wippte bedrohlich.

„Das ist mein Fahrrad, geh mir aus dem Weg und ich lasse von einer Anzeige ab.“

„Verschwinde und ich lasse von einer Tracht Prügel ab, Junge!“

„Ich habe Beweise.“ Levi schnippte ihm den Zigarettenstummel, den er eingesteckt hatte, gegen die Brust. „Pall-Mall! Deine Marke.“

„Ich rauche nicht, Junge.“

„Ach ja?“ Levi nickte mit dem Kopf zu der Schachtel, die auf dem Tresen lag.

Die Faust des Kleinen donnerte Levi in den Magen. Die Luft entwich schmerzhaft seinen Lungen. Er sank auf die Knie. Der rechte Haken ließ ihn nach hinten fallen. In seinen Ohren klingelte es.

„Habe ich hier meine Kippen liegen gelassen.“ Eine vertraute Stimme. „Levi!?“

„Hier.“ Anna reichte Levi noch ein Bier und setzte sich neben ihm auf die Stufen der 512 Erika Row. Mit dem Eis auf dem Auge und einer Ibuprofen, aus Annas Handtaschenapotheke, im Blut ließ sich der Schmerz gerade so aushalten. Mit dem gesunden Auge betrachtete Levi seinen neuen Sattel, der nun auf seinem Fahrrad montiert war. Es stand wieder an dem Laternenpfahl und glänzte rot in der Sonne.

„Alles Gute zum Geburtstag, Levi.“ Anna lächelte und küsste ihn auf die Wange.

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