Posted in Deutsch, Stories
2017-10-15

Der Tag danach

 „Sir … Sir … Sie können hier nicht schlafen.“

Etwas Hartes stieß mich in die Schulter. Ich öffnete meine verklebten Augen und blickte in das verschwommene Gesicht einer Polizistin. Ihr Partner stand hinter ihr und beobachtete mich mit Argwohn.

„Sir, ich muss Sie bitten aufzustehen.“

Ich blinzelte und richtete mich auf. Die Welt schwankte. Sofort stand kalter Schweiß auf meiner Stirn. Ich schluckte.

„Sir, geht es Ihnen gut?“

„Ja … Ja, geht schon“, log ich, was die Polizisten zum Gehen veranlasste. Ich blieb allein auf der Bank zurück, auf der ich geschlafen hatte und starrte auf meine dreckigen Hände. Irgendetwas roch nach einer durchzechten Nacht. Mein Gesicht schmerzte und in meinem Schädel herrschte eine beunruhigende Leere. Die Kreuzung vor mir, die roten Fassaden, die Markisen und Läden – wo war ich?

Ich griff in meine Tasche, denn ich verspürte das Verlangen zu telefonieren, doch sie war leer. Ich war mir nicht sicher, ob ich je ein Telefon besessen hatte, so suchte ich nicht weiter.

Auf wackeligen Knien ging ich einige Schritte die Straße hoch. Der Gestank folgte mir. Durch den unruhigen Verkehr sah ich auf der anderen Straßenseite ein selten gewordenes Objekt.

Die Telefonzelle war nur noch eine Hülle ihrer selbst. Ich hob den Hörer ab. Es gab einen Freiton. Gott sei Dank. Vergeblich suchte ich in meinen Taschen nach Münzen, also griff ich nach meinem Portemonnaie. Es fehlte. Was war hier eigentlich los?

„Entschuldigung“, wandte ich mich an einen Passanten, aber er ignorierte mich und eilte vorbei. Der Gehweg schien Wellen zu schlagen, ich musste mich festhalten. Vor meinem inneren Auge erschienen Bilder aus einem Leben, dass nicht meines war. Zumindest erkannte ich es nicht. Kalte Schauer liefen über meinen Rücken und zwangen mich in die Knie. Den Hörer noch in der Hand sank ich auf den Asphalt.

Es kam mir vor, als hätte ich Tage dort im Dreck gesessen, als ein Viertel-Dollar vor mir zu Boden fiel.

„Danke“, rief ich der Dame heiser hinterher, aber sie ging weiter, ohne mich anzusehen.

Jetzt wo ich telefonieren konnte wusste ich nicht wen ich anrufen sollte. Daher wählte ich die erste Nummer, die mir in den Kopf kam. Es klingelte.

„Hallo?“ Eine Frauenstimme.

Mir fehlten die Worte.

„Hallo?“, wiederholte sie „Hallo? Dagat, bist du das? Hier ist Gwen, wo …“

Ich legte den Hörer zurück auf die Gabel. Der Name hallte in meinem Gehirn. In der Scheibe eines Geschäfts spiegelte sich ein unbekanntes Gesicht. Ein dreckiges, müdes Gesicht. Ein Gesicht übersät mit blauen Flecken und verkrusteten Blut. Ich hob die Augenbrauen. Die Visage äffte mich nach.

Was war nur passiert? Planlos schritt ich die Straße entlang. Wer war ich? Mein Herzschlag spielte verrückt. Wo bin ich? Keine klaren Gedanken konnte ich fassen.

„Wo bin ich?“, fragte ich einen Mann, der anstatt zu antworten die Straßenseite wechselte.

„Wo bin ich?“, schrie ich ihm hinterher. „Wo bin ich? Wo bin ich?“

„Beruhig’ dich ma’ du Opfer!“ Jemand schubste mich von hinten. Ich strauchelte, stolperte und fiel. Kopfüber landete ich in einem Haufen Müll am Eingang einer Gasse. Es war angenehmer liegen zu bleiben, also rollte ich mich auf die Seite und wollte die Augen am liebsten nicht mehr aufmachen. Dennoch öffnete ich sie. Vor mir blitzte etwas im Dreck. Ich hob den Autoschlüssel auf und putzte ihn an meiner Hose ab. Ford. Ich hatte mal einen Ford. Einen Schwarzen. Nein, ich habe einen Ford. Einen Schwarzen. Das waren meine Schlüssel! Der Dopaminschub, den diese konkrete Erinnerung erzeugte, brachte mich auf die Beine. Mein Blick schweifte aufgeregt umher. Nirgendwo war ein schwarzer Ford, aber eine Tür prangte mit magischer Anziehung in der Backsteinwand.

Meine Hand packte die Klinke und drückte sie nach unten. Verschlossen. Meine Fäuste schlugen auf das Metall, ich rüttelte und zog an der einzigen bekannten Tür in dieser fremden Welt.

Schließlich hörte ich das Schloss sich drehen und ein unnatürlich roter Schopf streckte sich durch den Türspalt.

„Was!?“, Die wütende Miene der Frau ebbte ab. In ihren Augen funkelte plötzlich Freundlichkeit. „Komm’ rein.“

Sie führte mich in den Schankraum eines Pubs, platzierte mich an der Theke und stellte ein Glas Wasser vor mich. Aus einer Schublade holte sie eine Aspirin, eine Geldbörse und ein Mobiltelefon, und legte alles neben mir auf die Bar, bevor sie anfing Eis in ein Tuch zu schaufeln.

„Mann, du hast echt gelitten.“ Sie blickte mich besorgt aus grauen Augen an. „Ich ruf’ besser mal deine Frau an.“ Sie gab mir das Eis und nahm das Telefon.

Zögerlich öffnete ich die Geldbörse. Neben ein paar Geldscheinen und den üblichen Karten war auch ein Führerschein darin.

„Dagat Nenegin, 6 Fuß, 165 Pfund“, las ich auf der grünen Karte. Das war ich. Mein Gesicht, mein Name. Ich erinnerte mich! Mein Portemonnaie, meine Schlüssel, lagen auf der Theke meiner Stammkneipe.

„Gwen“, rief ich der Barkeeperin zu, die mit meinem Telefon meine Frau anrief. „Warum hast du meine Sachen?“

„Ja, ich glaub’, es ist besser du holst ihn. Bis gleich“, sprach sie in das Telefon und legte auf. Sie wandte sich zu mir. „Mann, so durch hab’ ich dich ja noch nie erlebt. Dieser eine Kerl hat sich mit dir angelegt. Damit ihr Zwei mir nicht die Bar zerlegt hab ich euch raus geschmissen.“

„Und meine Sachen?“

„Sag’ du es mir. Die habe ich heute Früh hinten in der Gasse gefunden.“

„Ich hab’ sie aus den Taschen genommen und auf eine Mülltonne gelegt, bevor es losging. Die haben mich irgendwie gestört.“

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