Langschwein
Das Haus sieht winzig aus, hier, weit draußen außerhalb der Stadt. Doch es ist riesig und alt. Es strahlt voller Geschichte. Dunkler Geschichte. Thront über den Feldern, welche einmal Schlachtfelder waren. Im Krieg zwischen den Siedlern und den Kannibalen, die hier hausten, bevor die Engländer kamen.
Lo-Ihi schluckt und schreitet den Pfad den Hügel hinauf. Die Veranda ächzt unter seinem Gewicht. So dick bin ich doch gar nicht. Gesunde Körperfülle. Nicht zu mager, aber mit mehr Muskelfleisch als Fett. Dennoch kommt er sich vor wie ein gemästetes Schwein. Langschwein.
Er sieht kurz in das Spiegelbild des Fensters und richtet sich die Haare, bevor er die Klingel drückt. In der ländlichen Stille hört sich das Läuten an wie die Totenglocke einer verlassenen Kirche. Er spürte die Aufregung in den Knochen kitzeln und will schon gehen, als sich die Tür öffnet. Da steht er, groß und trainiert, im Türrahmen. Mit diesem Lächeln im Gesicht, das Lo-Ihi damals gleich nach rechts swipen ließ. Er reicht Lo-Ihi eine weiche und doch starke männliche Hand und bittet ihn hinein.
Drinnen ist es dämmrig und kühl und fast steril sauber. Alles steht beunruhigend ordentlich in den Regalen, wie Soldaten vor der Schlacht.
„Möchtest du was trinken?“
„Einen Sekt vielleicht, wenn du hast.“ Lo-Ihi braucht etwas, um die zähen Nerven zu lockern. Niemand kann es ihm verübeln, dass er nervös ist, steht er hier in der Diele eines eigentlich Fremden in der Mitte des Nirgendwo.
Aber ist er denn wirklich so fremd? Sie schreiben sich nun seit einem halben Jahr. Fergie139 und Lo-Ihi104. Charmant war er. Viel zu charmant, als dass Lo-Ihi hätte Nein sagen können, als Ferguson ihn zum Essen einlud. Natürlich würde Lo-Ihi nicht sofort zu ihm gehen. Er war ja nicht lebensmüde. Einen schönen öffentlichen Platz suchte Ferguson ihnen aus. Porkies Steak and Grill. Nicht zu nobel, aber keine von diesen fettigen Fastfood Buden. Lo-Ihi aß einen Burger, Ferguson Schweinekoteletts. Langschwein.
Aber jetzt ist Lo-Ihi hier, in dem Haus über dem Schlachtfeld und sieht in Fergusons Augen. Er lächelt und hält ihm ein Glas hin. Lo-Ihi nimmt es und saugt dankend einen tiefen Schluck ein, um die Nerven zu beruhigen. Denn heute will er es. Ich würde es zulassen. Ich würde ihn lassen. Es war stets hart gewesen, Fergusons weichen Lippen zu widerstehen, wenn sie an seinem Hals empor wanderten, damals, als er ihn nach Hause fuhr. Sie suchten ihren Weg zu seinem Ohrläppchen, knabberten, leckten.
„Du bist so süß“, hatte er Lo-Ihi ins Ohr geflüstert.
Lo-Ihi lächelte verlegen, schob Fergie artig von sich, und küsste ihn sanft auf die Wange, gute Nacht. Diese Bäckchen! So schön steht er nun vor ihm und verschwimmt vor Lo-Ihis Augen.
„Huh, ich glaube, ich muss mich setzen.“
„Geht es dir gut?“
„Es geht schon. Wahrscheinlich nur der Kreislauf. Gib mir einen Moment.“
„Hier“, Ferguson kniet vor ihm und zieht ihm die Schuhe aus. „Leg dich ruhig lang“, hebt seine Füße auf die Armlehne des geblümten Sofas. Dankbar lässt Lo-Ihi sich auf das Wurfkissen fallen und schließt die Augen. Er spürt noch Fergusons Lippen auf der Stirn, bevor er in die Dunkelheit fällt, aus der Fergusons Stimme dringt:
„Schlaf, es wird gleich vorbei sein.“
Der Duft von einem festlichen Mahl weckt Lo-Ihi. Kartoffeln. Frisches Gemüse. Fette Soße. Schweinebraten. Langschwein. Er öffnet die Augen. Goldener Schein zahlloser Kerzen dringt in sein Innerstes und legt sich warm und wohlig um sein Herz. Von irgendwo ganz entfernt, so scheint es, erreicht beruhigende Musik sein Ohr.
Er sitzt an einer feierlichen Tafel. Reich gedeckt mit funkelndem Silber und feinem Tuch. Neben ihm Ferguson, charmant lächelnd, wie immer.
„Schön, dass du wach bist.“
Lo-Ihi will antworten, doch seine Lippen sind taub und nur ein heiserer Seufzer kommt heraus.
„Schon okay, wir essen erst mal.“ Ferguson dreht Lo-Ihis Kopf, der zur Seite gefallen war, sodass er das Festmahl sehen kann. In der Mitte der Tafel liegt eine einsame verschlungene weiße Lilie, die ihm so vertraut und so liebevoll vorkommt, dass ihm die Tränen kommen. Keine Tränen der Trauer. Angst hatte sich bitter in seine Gedärme gesetzt. Etwas stimmt hier nicht. Im Zentrum des Gedecks liegt es. Der Braten. Ein ellenlanger Braten. Die knusprig gebackene Kruste an der einen Seite entfernt und drapiert, sodass man das gegarte Muskelgewebe gut sehen kann.
Ferguson beginnt, knapp unterhalb des Gummiriemens, der Lo-Ihis Ellenbogen von dem Braten trennt, das Fleisch zu filetieren. Es sieht schmackhaft aus und riecht verführerisch und doch rinnen Lo-Ihi die Tränen vor Ekel und Wut. Ferguson legt ihm eine Scheibe rosa gegarten Muskelfleischs auf den Teller aus gold-berandetem Porzellan, wo Knollen, Sprossen und ein Soßenspiegel warten.
Unfähig sich zu regen, sieht er Ferguson zu, wie er sich auftut, wie das Silber ein Stück abtrennt und an die Nase führt. Er kostet das Fleisch, wie man einen Wein kostet. Er besieht sich die Farbe. Atmet den Geruch und legt es sich schließlich auf die Zunge.
„Hm“. Er kaut und nickt. „Oh, bitte entschuldige.“ Er wendet sich zu Lo-Ihis Teller und zerkleinert das Fleisch. Ein Stück platziert er Lo-Ihi in den Mund. Es ist salzig derb. Schwein. Langschwein. Es schmeckt zu gut. Lo-Ihi spielt mit der Zunge, kaut zaghaft und schließt die Augen, um zu schlucken.