Posted in Deutsch, Stories
2017-09-14

Eine Begegnung der besonderen Art

Tino saß auf seinem kleinen Balkon im neunten Stock und versuchte die Glut seiner Zigarette gegen den Wind zu schützen. Die Videokamera lag griffbereit in seinem Schoß. Er saß jetzt schon die dritte Nacht in Folge hier und bis jetzt war sie ereignislos vorbeigezogen. Aber Tino würde sich nicht beirren lassen. Sie würden zurückkehren und er würde sie aufnehmen und dann würde niemand mehr über ihn lachen.

Er nahm einen gierigen Zug und starrte in die Nacht hinaus. Über den Dächern der Stadt sah man kein Licht mehr, nur das Rote des entfernten Sendemastes pulsierte gemütlich in der Dunkelheit.

Das letzte Mal waren sie fast zum Greifen nah an ihm vorbei gesaust, aber das war nicht immer so. Am Anfang waren es nur kleine Punkte am nächtlichen Firmament, welche sich zu jagen schienen. Ganz klein, ganz weit weg am Horizont. Das war vor einem halben Jahr gewesen. Seitdem hatte Tino viel recherchiert und war, was UFOs anging zu einem Experten geworden, aber keiner seiner Freunde wollte es hören.

Immer öfter hatte er die Lichter gesehen. Manchmal waren es ganze Gruppen, manchmal auch nur eins. Sie tanzten durch den Himmel, blinkten und wechselten die Farben.

Das Feuerzeug fiel ihm aus der Hand, als er versuchte sich eine neue Kippe anzuzünden. Er bückte sich danach, aber fingerte es nur weiter unter seinen Stuhl. Er stand auf, holte das Feuerzeug hervor, zündete die Fluppe an und lehnte sich an die Brüstung.

Meistens kamen sie donnerstags, manchmal aber auch am Mittwoch, selten nur freitags, aber immer einmal im Monat. Manchmal dauerte das nächtliche Schauspiel Stunden, an anderen Tagen sausten sie nur schnell vorbei. Es ist auch schon vorgekommen, dass sie am frühen Abend von Westen nach Osten flitzten und dann gegen Mitternacht von Osten nach Westen.

Tino schaltete die Kamera ein und spielte an dem Objektiv. Er testete Zoom und Fokus am Fenster der süßen Nachbarin von schräg gegenüber.

Sie hatte blonde Haare und ihr Schlafzimmerfenster war zu Tinos Balkon gewandt. Ein roter Schimmer legte sich über seine Linse. Er zoomte rein. Er zoomte raus. Der Schimmer blieb. Verwundert hielt er die Kamera etwas von sich entfernt und bemerkte, dass der rote Schimmer auch über seinen Händen lag.

Er zuckte zurück, als er die riesige rot leuchtende Kugel sah, welche keine fünf Meter vor seinem Balkon schwebte. Als sie ihre Farbe abrupt in ein gleißendes Weiß änderte, stolperte er über seinen Stuhl. Die Kamera flog in hohem Bogen über die Brüstung und zerschellte vier Stockwerke tiefer auf einem breiten Vorsprung.

Tinos Herz galoppierte. Zitternd lehnte er an der gläsernen Balkontür. Gelähmt starrte er auf die leicht vibrierende Kugel, welche ihr Licht langsam zu einem dunklen Orange dimmte. Mit der Helligkeit legte sich auch Tinos Nervosität. Trotzdem klebte er an der Tür.

Die surrenden Vibrationen stoppten. Für eine Doppelsekunde geschah nichts. Dann zischte die Kugel, ihre Außenhaut öffnete sich an einer Stelle. Tino löste sich aus seiner Starre und trat einen Schritt vor. Aus der Öffnung ergoss sich ein sanfter grüner Lichtstrahl, der Tino präzise ins Gesicht leuchtete, bis eine Silhouette ihn verdeckte. Sie wuchs auf die Größe eines Elfjährigen und setzte sich auf die Brüstung.

Der Lichtstrahl versiegte, die Öffnung schloss sich mit einem Fump. Übrig blieb eine seltsame Gestalt im Vordergrund des UFOs. Das Wesen trug einen gelben Overall und hatte eine blau-grüne Haut, die je nach Blickwinkel pink oder gold schimmerte. Es saß da mit verschränkten Beinen, die Hände auf den Knien gefaltet, Tino neugierig beäugend. Auf dem kleinen Kopf, der sich zuckend bewegte, saß ein grauer Fliegerhelm.

„Hallo.“ Tino winkte schüchtern.

Der Außerirdische winkte zurück und legte den Kopf schief. Er blinzelte mit großen grünen Augen.

„Ich bin Tino.“

Mit seinem langen Zeigefinger forderte der Alien ihn auf näher, zu kommen. Tino wagte sich einen Schritt vor. Der Zeigefinger wiederholte seine Geste. Tino folgte der Aufforderung und stellte sich neben das Wesen, welches den Kopf schräg legte. Seine Pupillen weiteten sich. Der Alien legte den Kopf auf die andere Seite, die Pupillen schrumpften zusammen. Dann lehnte es sich vor. Er kam Tino ganz nah. Der öffnete den Mund, aber blieb stumm. Der Außerirdische lehnte sich noch weiter vor, als wollte er ihm etwas ins Ohr flüstern, aber schnüffelte nur und sprang kurzerhand vom Geländer. Er öffnete seinen Overall ein wenig und wühlte darin herum. Er holte ein kleines Gerät hervor, auf dem es eine Taste drückte, während es das Teil auf sein Raumschiff richtete. Das Gerät piepte, das Schiff surrte und der grüne Lichtkegel erschien.

Der Außerirdische schwang sich über die Brüstung und tauchte in das Licht. Tinos Augen weiteten sich, denn das Wesen fiel nicht.

„Warte … Geh’ nicht … Ich habe so viele Fragen.“

Wieder der Zeigefinger, der sich in der universalen Geste rollte. Tino zögerte, doch stieg über das Geländer. Der Alien winkte ihn heran. Tino blickte auf die Teile der Kamera unter ihm. Der Besucher schwebte ihm entgegen und reichte ihm die Hand, aber Tino konnte den Griff nicht vom Geländer lösen. Der Außerirdische tippte etwas in sein Gerät, bevor er es zu Tino drehte. Auf dem kleinen Bildschirm leuchteten Buchstaben: Traktorstrahl.

Tino griff die angebotene Hand. Sie war weder warm noch kalt. Zögerlich trat er in die Leere vor seinem Balkon. Sofort beschleunigte sein Körper. Tinos Finger glitten aus der samtig weichen Hand und die Schwerkraft packte ihn gnadenlos. Eineinhalb Sekunden später lag er zwischen den Trümmern seiner Kamera und versuchte zu atmen, was in seiner Brust ein schmerzhaftes Rasseln hervorrief. Heiße dicke Flüssigkeit füllte seinen Mund. Bewegungsunfähig starrte er in die Höhe, wo der Alien in der Luft hing und zurück starrte. Der Traktorstrahl erlosch, was aber keinen Einfluss auf den Besucher hatte. Er hing nur dort, über Tino in der Luft und sah vogelartig auf ihn herab. Dann zuckte er mit den Schultern und hielt sich sein Gerät an die Lippen: „Subjekt kann nicht fliegen.“

Der Alien verschwand in seinem Raumschiff, welches in der Nacht verpuffte. Dann wurde Tinos Welt schwarz.


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